Ich brauche Wurzeln – das habe ich lange geglaubt

Veröffentlicht am Kategorisiert in Persönliches
Frau vor efeubewachsener Mauer schaut durch ein Loch, das sie mit den Fingern ihrer rechten Hand vor das Gesicht hält.
Mit 58 Jahren ist Freiheit für mich ein sehr hohes Gut. Was Wurzeln damit zu tun haben? Lass dich überraschen :-)

Endlich. Endlich wieder. Endlich habe ich wieder einmal Zeit an einem letzten Freitagabend des Monats. Denn so einer muss es sein, um bei der Blognacht mit Anna Koschinski teilzunehmen:-) „Das habe ich (zu) lange geglaubt“ ist ihr Impuls für die Nacht. Und ich wäre keine Kreativ-Schreibende, wenn mir nicht spontan etwas dazu einfiele. Ich kann – muss nicht – draufspringen und das Thema in einen Blogartikel münden lassen, der heute Nacht geschrieben und vor allem auch veröffentlicht wird. Also lege ich los und lasse auch mich ein wenig davon überraschen, was ich heute am 31.5. noch vor Mitternacht zusammenschreibe. Mein Thema sind auf alle Fälle meine Wurzeln – denn ich glaubte lange, ich bräuchte welche.

Wurzeln – hat die nicht jeder?

Auf die Wurzeln kommt es an! Wie tief verwurzelt bist du? Wurzeln geben Halt. Diese und viele andere Sätze kennen wir alle und haben sicher selbst schon einmal darüber nachgedacht. Tatsächlich glaubte auch ich bis vor wenigen Monaten, ich bräuchte sie unbedingt. Bräuchte sie, um glücklich zu sein, meinen Platz zu haben, Sicherheit und Halt zu erleben.

Bemühe ich meine Vorstellungskraft, taucht sofort das Bild eines starken Baumes vor meinem inneren Auge auf. Der stolz und gerade, vielleicht auch etwas kleiner und windschief, in jedem Fall jedoch mit in den Boden reichenden Wurzeln seinen Stand hat. Die Wurzeln halten ihn, nähren ihn, sind seine Lebensgrundlage, sind seit er gekeimt hat das Erste, was sein Leben zeugte.

Übertragen auf mein menschliches Dasein sind meine Wurzeln meine Verbindung zu meiner Herkunftsfamilie, das Vertrauen, das meine Eltern mir mit ihrer Liebe und Erziehung als Lebensader mitgaben. Auch die Sicherheit und den Halt, den sie mir in meiner Kindheit und Jugend, sowie Erwachsenenzeit gaben. Meine Lebensjahre in meiner heimatlichen Umgebung, die mich norddeutsch prägten.

Diesen alten Wurzeln als Inbegriff der Herkunft war und bin ich mir noch immer bewusst. Ich spüre sie in und an mir, auch wenn sie schon seit sehr vielen Jahren nicht mehr in meiner Heimatregion verortet sind.

Wie ich meine Wurzeln aufgab

Ich bin weggezogen, weg von Zuhause. Zunächst nur wenige Kilometer, als ich meine Ausbildung beendet hatte und eine Dachgeschosswohnung in der Nähe meines Arbeitsplatzes frei wurde. Zum ersten Mal eigenständig, ganz für mich. Eine tolle Erfahrung, über Wurzeln machte ich mir dabei noch keine Gedanken. Ich entwickelte mich und lernte dazu.

Lernte einen Mann kennen, für den ich zwei Jahre später mein Bundesland Schleswig-Holstein verließ, um in Niedersachsen eine neue Heimat zu finden. Innerhalb der nächsten zwanzig Jahre zog ich viele weitere Male um. Wurde Mutter und Familie, folgte dem Ruf meines Herzens, fand neue Bekanntschaften und landete in Rheinland-Pfalz.

Alles fühlte sich richtig und stimmig an, meinen Kindern vermittelte ich Zugehörigkeit, Liebe und Verlässlichkeit. Ihre Wurzeln sprossen, wie in meiner Kindheit damals die meinen. Als Mutter machte ich mir keine Gedanken über meine Wurzeln, spürte jedoch irgendwann, dass ich einen entscheidenden Schnitt vollzogen hatte: Gabi war nicht mehr nur Gabi, sondern plötzlich Gabi plus drei.

Meine Aufmerksamkeit galt nicht mehr meinem Halt, meiner Sicherheit, meinem Ursprung, sondern sie hatte sich verschoben und galt meiner Kleinfamilie. Die Verantwortung für sie wurde mein neuer Nährboden, meine vor so vielen Jahren schon hinter mir gelassenen Wurzeln als Einzelperson waren nicht mehr wichtig. Ich hatte eine neue Identität gewählt, meine Wunschrolle „Mutter“. Sie machte mich ortsunabhängig, bezog sich auf meine Lieblingsmenschen und die waren ja immer bei mir.

Wann ich meine verlorenen Wurzeln vermisste

Søren Kierkegaard hat so treffend festgestellt, dass das Leben vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden wird. Ach, hätte ich doch vorher gewusst, wäre doch früher drauf gekommen, dass die schleichende Selbstaufgabe, die ich naiv und unbewusst befördert hatte, sich eines Tages bitter rächen würde.

Ja, was soll ich sagen: Meine heile Familienwelt bekam Risse, dann Brüche und lag am Ende in einem riesengroßen Scherbenhaufen vor mir. Fern meiner alten Heimat, meines alten Nährbodens, losgelöst von den mir wichtigen Banden alter Freundschaften und nahe stehenden Familienmitgliedern. Stand ich plötzlich allein.

Mutterseelenallein im wahren Wortsinne. Alle ausgeflogen, mein Nest war leer. Mein Baum verlassen, mein Leben leer. Und was macht Frau, wenn sie nach und nach sich besinnt? Auf das, was war, was hätte sein können, was noch passieren könnte? Sie akzeptiert.

Sie akzeptiert, dass SIE gefordert ist, sich selbst anzapfen muss. Dass ihre Energie und Kraft, ihre Stärke und ihr Ich in ihr selbst zu finden sind. Dass keine Wurzel der Welt ewig hält, dass aber die Quelle über viele Jahre gespeist wurde und ihr zu einem neuen Selbstbild verhelfen kann. Wenn sie sich aufmacht, diesen Weg zum Ursprung nicht im Gestern, sondern im Heute zu entdecken und sie ihr Morgen selbstwirksam gestaltet, hat sie eine neue Entwicklungsstufe erklommen.

Warum ich heute keine Wurzeln mehr schlagen muss

Die Erkenntnis, dass Wurzeln großartig sind, ich jedoch heute, entgegen meines langjährigen Glaubens daran, keine neuen mehr schlagen muss, ist bahnbrechend für mich gewesen. Sie hat mich befriedet, mir meine Rastlosigkeit genommen und Gelassenheit geschenkt.

Anstatt unbedingt „ankommen“ und vor allem „bleiben“ zu wollen, bin ich mit meinen kurzen, abgeschnittenen Wurzelenden wunderbar in der Lage zu landen. Ich kann mich vernetzen, Kontakte knüpfen und ausbauen, wenn ich das möchte. Ich kann – muss aber nicht. Das ist ein großer und wichtiger Unterschied für mich. Ich bin wählerisch geworden, ja, das gebe ich unumwunden zu, und anspruchsvoll. Wohlverdient, möchte ich meinen und das bezeichne ich tatsächlich als einen Segen des Älterwerdens 🙂

Wurzellos – und frei

Ich kann stehen, kann gehen, kann bleiben oder weiterziehen. Gerade dadurch, dass Wurzeln mich nicht festhalten, mich nicht einhegen in eine bestehende Struktur, bin ich frei. Ich kann mich entscheiden, wohin ich gehe, ob ich bleibe – noch ein wenig – oder mich Neues lockt, das ich neugierig erkunden möchte.

Ich habe in den vielen Jahren gelernt, dass meine Versorgungsstrukturen in mir selbst liegen. Ich habe alles in mir, um zufrieden zu sein. Ich strecke meine Arme aus, nehme Hände an, die sich mir zeigen, nähre meinen Geist und Körper durch die Bewegung zwischen den Reizen, die sich mir bieten. Ich habe meine Vergangenheit akzeptiert, die Lehren daraus gezogen und empfinde den Verlust meiner Wurzeln, meiner Rollen, die ich wählte, nicht mehr als Mangel.

Jeder Schritt, jede Entscheidung, jeder Tag und jeder Mensch in meinem Leben hat mich geformt. Mich gehalten oder losgelöst, mich gesichert oder weitergeschoben. Und heute stehe ich: aufrecht wie ein Baum, mit weit ausgebreiteten Armen, ernähre mich von Wasser und Luft und Liebe und Vertrauen – im bildhaft-übertragenen Sinne. Ich stehe und erinnere mich an meine Wurzeln, schätze sie sehr, doch brauche sie nicht mehr.

Denn ich lebe in Freiheit, der selbstgewählten Freiheit, mich jederzeit neu zu erfinden und den Platz zu wechseln. Ich weiß heute, ich lebe nicht an dem Ort, von dem aus ich eines Tages die Erde verlasse. Ich lebe gut und zufrieden hier und habe doch meinen Radar ausgefahren, um die Möglichkeiten wahrzunehmen, die sich mir bieten werden. Ohne Wurzeln bedeutet für mich Freiheit pur. Nur mir selbst verpflichtet, selbstwirksam par excellence 🙂


Lächelnde Frau vor Efeu-Wand mit einem Notizbuch in der Hand, darauf der Claim "Liebe, die durch Worte strahlt"

Gabi Kremeskötter

Liebe, die durch Worte strahlt

Freie Rede – Schreibworkshops – Lektorat


6 Kommentare

  1. Liebe Gabi,
    ich habe Deinen Artikel heute morgen schon gelesen, aber ich musste da erstmal drüber nachdenken.
    Ich bewundere, dass Du da eine so klare Antwort für Dich definieren kann. Ich bin da für mich ambivalenter. Auch ich musste einige Wurzeln im Laufe meines Lebens loslassen, einige waren auch durchaus verfault. Und auch wenn ich eigentlich den Spruch “ wer loslässt, hat beide Hände frei“ ganz gerne mag, bedauere ich so manche gekappte Wurzel dennoch. Auch mir geht meine Freiheit über alles, aber so eine selbstgewählte Verwurzelung – als Ort, an den man immer wieder zurückkehren kann – finde ich schon wünschenswert für mich. Sowohl als ein äußerlicher Ort als auch ein innerlicher Ort, der dann da ist, wo meine kleine Kernfamilie ist.
    Liebe Grüße
    Britta

    1. Liebe Britta,
      ich danke dir sehr, dass du deine Gedanken zu meinem Artikel mit mir geteilt hast. Ich verstehe dich sehr gut. Das Bedauern über, wie du so passend schreibst, „gekappte“ Wurzeln, kenne ich so gut! Doch hilft das Bedauern nicht weiter, sondern für mich einzig der Blick nach vorn und was mir das Nicht-mehr-verwurzelt-sein an Freiheit bietet. Dieses anzuerkennen und die Möglichkeit zu nutzen, ohne festgehalten zu werden, neue Wege zu gehen.
      Vielleicht nennen wir das einfach Luftwurzeln, die sich an mir ausbilden und mich immer da in Verbindung bringen, wo sich mir andere entgegenstrecken 🙂
      Ich sehe, dieses Thema birgt noch sehr, sehr viel mehr …
      Herzliche Grüße
      Gabi

  2. Liebe Gabi,

    an Luftwurzeln musste ich auch gleich denken, als ich deinen sehr berührenden, tiefsinnigen Artikel über die Bedeutung von Wurzeln und dem Bedürfnis nach Freiheit gelesen habe. Er wirkt in mir nach. Vielen Dank dafür!

    Sehr herzlich

    1. Liebe Pia,
      danke!
      Ja, letzten Endes ist egal, womit wir uns nähren. Ob heimatliche Erdung, das Gefühl der Freiheit oder von jedem etwas uns Halt gibt.
      Wichtig allein ist, dass wir für uns das richtige Element finden 🙂
      Viele Grüße
      Gabi

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