Meine Befreiung – über Bühnen und ihr Publikum (eine Wutrede)

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Frau mit zusammengekniffenen Gesichtszügen, hat ihre Hände zu Krallen geformt
Wie ich mich aus unangenehmer Situation befreite- ganz einfach und doch anfangs so schwer

Wieder Blognacht mit Anna Koschinski. Ich wusste bis zur Minute nicht, ob ich das schaffen werde, umso mehr freue ich mich, dass ich´s gepackt habe, dabei zu sein. Und du jetzt auch, denn sonst gäbe es den nachfolgenden Artikel nicht. Das Blogthema des Abends: Challenge accepted. Als bekennende weitestgehend Anglizismen Vermeiderin stelle ich mich der Aufgabe, über eine (große) Herausforderung, die ich gemeistert habe, zu schreiben. Okay, dieses Thema hat gut dreißig Minuten in mir gearbeitet. Dann hatte ich einige meiner Herausforderungen innerlich aufgelistet. Doch keine davon ist Kernthema meines Artikels. Denn das lautet: Meine Befreiung – über Bühnen und ihr Publikum (eine Wutrede).

Müssen Herausforderungen immer groß sein?

Als ich meine oben genannte innere Liste fertig hatte mit wirklich großen Herausforderungen, die ich meisterte oder auch nicht, überlegte ich: Muss es denn unbedingt eine große sein? Ist nicht allein die Tatsache, dass eine Situation, eine Aufgabe mich HERAUS fordert, aus meiner Bequemlichkeit schleudert, groß genug? Die mich motiviert, über mich HINAUS zu wachsen, etwas zu überwinden, was mir vorher schwerfiel, mir Angst macht, mich unbeliebt machen könnte und bisher kaum vorstellbar war?

Denn was und/oder wer genau definiert überhaupt, was schwer oder groß oder besonders ist? Bin ich da auf „die Anderen“ angewiesen? Ihre Zuordnung, ihren Applaus, ihre Definition über groß oder klein? Mit meinen inzwischen 58 Jahren stelle ich als Ergebnis meiner Überlegungen fest, die Meinung anderer nicht mehr übermäßig in meine Einordnung oder Bewertung einfließen zu lassen. Ich habe Lebenserfahrung gesammelt, war in vielen Situationen, habe mich von ihnen gefangen nehmen lassen und wieder befreit. Habe mir Herausforderungen gesucht und sie gemeistert, auch gescheitert bin ich.

Heute und für diesen Artikel habe ich entschieden, dass auch „klein“ ganz groß sein kann. Weil – und darüber schreibe ich im übernächsten Kapitel – mein heutiger Erfolg für mich ein Meilenstein ist. Eine Wegmarke, die zeigt, dass ich dazugelernt habe, für mich einzustehen und mich aus Situationen, die mir unangemessen erscheinen, zu befreien. Und damit du den Unterschied womöglich etwas besser einschätzen kannst, um den es mir heute geht, folgen in aller Kürze zunächst die – auch von außen betrachtet – großen Herausforderungen, die mir gelangen – oder auch nicht.

Meine heutige, kleine – aber doch so große Herausforderung

Na, endlich! So mag dein Stoßseufzer klingen, denn ja, jetzt endlich komme ich zu meiner heutigen Herausforderung, die ich anfangs bereits andeutete und der ich nun abschließend den ihr gebührenden Raum gebe. Denn ich bin stolz auf mich. Heute ganz besonders stolz auf mich. Ich habe mich gehalten, zusammengehalten und bin nicht explodiert. Ich feiere daher meine im Titel genannte „Befreiung“! Woraus befreit – und was hat sie mit Bühnen und Publikum zu tun? Lass mich dir dazu diese kleine Geschichte erzählen:

Über Bühnen – und ihr Publikum (eine Wutrede)

Stell dir ein Treffen vor, sich weitestgehend Unbekannte treffen sich. Verabreden sich für ein Wochenende zum Schreiben. Von Freitag bis Sonntag wollen sie sich treffen, um an ihren eigenen Projekten zu arbeiten. Eine Auszeit zum Schreiben, wie verlockend!

Dieser besonderen Einladung wollte ich folgen, traumhafte Aussichten: wohlversorgt sein mit einem Einzelzimmer, Balkon und Vollverpflegung, drei Tage lang nur meine Gedanken, mein Laptop und ich. Neue Menschen kennenlernen, vielleicht die eine und andere Inspiration erleben, Austausch, Schreibzeit und Netzwerken in abwechselnden Sequenzen durchlaufen, eine sehr verlockende Vorstellung.

Du musst dazu wissen, ich bin introvertiert, eine gute Zuhörerin, sehe mich nicht als Mittelpunkt der Welt (es sei denn, es handelt sich um meine ureigene, versteht sich). Habe dazu vorletzte Woche erst einen Persönlichkeitstest gemacht, ich bin eine Verteidigerin – ISFJ-A.

Und was trug sich heute nun zu – direkt am Anfang, beim ersten Kennenlernen am Kaffeetisch der Früh-Angereisten? Ich treffe am Tisch in der Hotel-Lobby kurz nach vier Uhr nachmittags die ersten Zwei, sie blicken mir neugierig entgegenblicken: ich nenne sie Susi und Denise. Kurze Begrüßung, „Hallo, ich bin Gabi. Seid ihr auch zum Schreiben hier?“ Susi antwortet freundlich, kurz und knapp, danach ist Denises Minute – die sich zur Stunde weiten würde, hätte ich das doch nur vorher schon gewusst! – gekommen. Nach wenigen Sätzen weiß ich, sie hat definitiv Redebedarf. Nach fünf Minuten kenne ich bereits vielfache persönliche Details, nach denen ich gar nicht gefragt hatte.

Ihre zwei Bücher sind sehr erfolgreich veröffentlicht. Sie spricht über ihren Ärger mit der ersten Lektorin, die Krankheit ihrer Mutter, die die Veröffentlichung ihres dritten Buches seit zwei Jahren verhindert. Fast im Nebensatz berichtet sie über ihre nun eigene Krebserkrankung, OP in fünf Tagen, ihre Zweifel über dies und das (soll ich oder soll ich nicht beim Verlag XY veröffentlichen) folgen. Weitere zehn Minuten später stößt Anne zu unserer Runde, wir sind uns bereits vor einem Jahr begegnet, eine sehr zurückhaltend sympathische Frau, introvertiert wie ich.

Denises Redeschwall geht ohne großes Hallo weiter. Egal, welches Thema wir anderen versuchen einzubringen, sie nimmt es dankbar an, denn auch dazu kann sie erzählen. Ihr Unfall, ihr Mann, ihr Leben. „Ach, ja, du lebst an der Mosel? Ich könnte mir auch vorstellen, dort zu leben. Das ist so schön dort! Wir fahren oft dorthin. Letztens in diesem kleinen Weindorf, wie das hieß, weiß ich nicht mehr, da war sogar Livemusik und wir wohnten bei der Weinkönigin.“

Ich gebe inzwischen innerlich auf, zu der Unterhaltung, ich müsste besser sagen Monolog, noch etwas beizutragen. Als Gerrit die Runde weiter vergrößert, kann auch er nur wenige Worte loswerden, bevor Denise das Wort wieder an sich reißt. Innerlich brodele ich, zügele mich, rufe mich lautlos zur Räson. „Ruhig, Gabi, sie braucht die Bühne, sie ist unsensibel wie ein Stein, aber das ist ihr Problem, nicht meins. Werde nicht gleich in der ersten Stunde undiplomatisch, es ist nicht deine Aufgabe, die Redezeiten hier zu moderieren.“ Leichter gesagt, als getan. Und dann fällt mir die Lösung ein:

Ich werfe kurz ein, dass wir hier ja zum Schreiben sind und ich für heute Nachmittag noch einiges vorhätte. Stehe auf, um die Lobby zu verlassen. Erkundige mich beim Service nach Abendessen (wo?) und ob am morgigen Abend ein gemeinsames Fernsehschauen (Fußball-EM Deutschland spielt gegen Dänemark) möglich ist.

Da sehe ich Anne und Gerrit auf den Hotelausgang zustreben – haben sie nur auf einen Vorwand gewartet, um ebenfalls dem Redebedarf zu entgehen? Sie werden etwas spazieren gehen – und siehe da, als ich auf dem Weg in mein Zimmer am Kaffeetisch vorbeikomme, sind auch Susi und Denise nicht mehr dort. Ob auch Susi die Flucht ergriffen hat, kann ich nur vermuten … Das Schauspiel, das sich uns vorher bot jedenfalls gehörte in die Kategorie: vom Spielplan absetzen, Neubesetzung!

Und wie ging es weiter? Ich habe vermieden, mich noch einmal direkt neben Denise zu setzen, habe Abstand gehalten und ihre Monologen und Gesprächsbeiträge weitestgehend ignoriert. Bestaunt habe ich die Geduld der anderen drei, die sich regelmäßig bei ihr am Tisch einfanden. Sie brillierte in der Tat durch Detailwissen, auch wenn niemand sie nach irgendeinem dieser Dinge fragte. Auch dass sie dank ihrer Erbschaft „eine gute Partie“ sei, betonte sie immer wieder.

Normalerweise hätte ich mir Gedanken darüber gemacht, welche Beweggründe sie zu dieser exponierten Selbstdarstellung treiben. Zumindest, wenn ich grundsätzlich weiteren Austausch mit ihr angestrebt hätte. Aber nein, kein Interesse und daher ist es mir am Ende egal. Sollen andere sich damit auseinandersetzen, meine Kapazität ist jedenfalls erschöpft bzw. nutze ich für erquicklichere Begegnungen 🙂

Mein Fazit

Ich gönne jeder ihre Bühne, aber ich entscheide, ob ich Publikum sein möchte oder nicht. Aufstehen und Gehen fühlt sich gut an. Sehr gut! Das nenne ich gelebte Selbstwirksamkeit 🙂 Mit diesem Gefühl und einer Spur gewachsener Gelassenheit sehe ich den nächsten zwei Tagen gut gelaunt entgegen.

Ich weiß mich abzugrenzen, sorge für mich und das auf höchst unspektakuläre Art. Mir Luft verschafft haben durch die Entscheidung, nicht länger an der Selbstdarstellung und übergriffigen Raumforderung teilzunehmen tat mir gut. Dass jetzt im Nachhinein diese, meine Wutrede entstanden ist, erscheint mir angemessen. Und da ich zudem davon ausgehe, dass diesen Artikel sicher nicht allzu viele lesen werden, hält sich auch mein schlechtes Gewissen oder die Angst, mich unbeliebt zu machen, in Grenzen.

Ich bin und bleibe ein harmoniebedürftiges Wesen, aber wo eine Grenze für mich ist, ziehe ich sie auch. Und das ist gut so. Der heutige Abend zeigt mir ebenfalls, wie perfekt Schreiben ist. Wie sehr ich dieses brauche, ja gar liebe. Wie es als Ventil dienen kann, gehört und gelesen und gesehen zu werden. Auch ich.

Und du? Bist du auch schon einmal derart zugetextet worden, dass du einfach nur raus wolltest aus der Situation? Wie bist du damit umgegangen? Welche Gefühle sind dabei in dir entstanden und welche hast du ausleben können?

Erzähl´s mir gern weiter unten in den Kommentaren. Herzliche Grüße Gabi

PS: Meine anderen Herausforderungen 😉

Weil ich gern diesen Artikel nach meinem mir „Luftverschaffen“ mit meinen anderen Herausforderungen enden lassen möchte, liste ich diese kurz ebenfalls noch auf. Eingeteilt in zwei Kategorien – die misslungenen und gelungenen. Genau: ich beginne mit dem Scheitern, dann schreibe ich mich hinten heraus ins Positive, lach, ein alter psychologischer Trick, der sicher auch hier funktioniert.

Meine misslungenen Herausforderungen

  • Im Abitur erzielte ich in meinen Lieblingsfächern Französisch und Sport die schlechtesten Ergebnisse.
  • Meine Ehe zerbrach nach 17 Jahren Partnerschaft im Jahre 2003.
  • Bis heute ist mir nicht gelungen, eine neue, dauernde Partnerschaft einzugehen.
  • Die Entscheidung, nicht zurück in meine alte Heimat zu ziehen, kostete mich Lebensenergie und Fremdsein für alle Jahre danach.
  • Meine Integration im neuen Wohnort ist auch nach 14 Jahren nicht gelungen.
  • Mein unbedingter, sportlicher Wille zum Durchhalten hat meinen Körper nachhaltig geschunden und geschwächt.

Meine gelungenen Herausforderungen

  • Mich neu zu erfinden nach dem Verlust meiner Rolle als Ehefrau und Mutter hat mich zu der gemacht, die ich heute bin. Und ja: Ich mag mich so, wie ich heute bin!
  • Nach Jahren aufgezwungener Distanz sind meine Kinder heute näher, vertrauter und enger mit mir verbunden als ich mir das je hätte vorstellen können.
  • Ich habe bereits zwei Mal ein altes Haus von Grund auf saniert und behaglich eingerichtet; im zweiten lebe ich noch immer, darüber habe ich sogar mein erstes Buch geschrieben.
  • Ich habe zwei Marathons gefinisht (Berlin 2011 und Köln 2013), den dazwischen in Paris 2012 musste ich zwar am Eiffelturm abbrechen, aber immerhin! Dem ersten habe ich übrigens in meinem Roman ein Kapitel gewidmet 🙂
  • Ich habe vor vier Jahren meine nebenberufliche Selbstständigkeit begonnen, sie füllt mich mehr und mehr aus, trotz aller technischen Hürden bin ich zunehmend autark – und wenn nicht, weiß ich, wen ich fragen kann.

Herausforderungen, denen ich mich in der Zukunft stellen werde

  • Ich habe meine soziale Isolierung akzeptiert und werde über kurz oder lang meinen Wohnort wechseln.
  • Ich starte im Herbst meinen ersten Online-Kurs: die Schreib:Zeit:Online – ein 6Wochen-Kurs im Kreativen Schreiben mit hohem Live-Anteil. Mein Null-Euro-Angebot 7in7 kannst du übrigens bereits jetzt nutzen 🙂
  • In vielleicht drei Jahren möchte ich meinen Haupterwerb in meinem kaufmännisch-technischen Beruf auf halbtags reduzieren und die gewonnene Zeit in mein eigenes Unternehmen investieren.

Lächelnde Frau vor Efeu-Wand mit einem Notizbuch in der Hand, darauf der Claim "Liebe, die durch Worte strahlt"

Gabi Kremeskötter

Liebe, die durch Worte strahlt

Freie Rede – Schreibworkshops – Lektorat


8 Kommentare

  1. Liebe Gabi,

    Chapeau für Deine Geduld! Ich weiß gar nicht, ob ich diesen Monolog so lange hätte ertragen können und mich nicht schon sehr viel früher zurück gezogen hätte. 🙅🏼‍♀️ Somit kann ich Deine Reaktion vollends nachvollziehen. Ich finde es sehr gut und absolut legitim, auf sich selbst zu schauen und die Konsequenz zu ziehen, wenn es nicht mehr passt. Mach es Dir recht, dann geht es Dir gut.

    Liebe Grüße
    Heike

    1. Liebe Heike,
      danke für deine Rückendeckung, ich denke manchmal, ich urteile zu hart. Doch wenn alles in mir danach strebt, das nicht aushalten zu wollen, ist „raus da“ die einzig richtige Entscheidung.
      🙂
      Viele Grüße
      Gabi

  2. Liebe Gabi,

    super gemacht! (Well done 😉 ) Die anderen waren Dir sicher sehr dankbar, dass Du ihnen quasi erlaubt hast, sich ebenfalls zurückzuziehen, indem Du als Erste gegangen bist. Zu mir hat neulich jemand gesagt „Ich bewundere deine Sperrigkeit. Ich wäre auch lieber öfter sperrig gewesen, und habe zu oft nur gelächelt.“

    Ich hoffe, im weiteren Verlauf war das Wochenende ruhig und ergiebig.

    Liebe Grüße
    Julia

    1. Liebe Julia,
      auch dir möchte ich danken, dass du mein Vorgehen gutheißt. Und ja, ich stimme dir zu: Sperrigkeit ist überhaupt nichts negatives, im Gegenteil, zeigt sie nur, dass wir uns gut kennen, auf uns achten und unsere Grenzen beachten 🙂
      In diesem Sinne war das Wochenende für mich durchaus erfrischend und sehr kreativ-effektiv.
      Gruß Gabi

  3. Liebe Gabi,
    oh ja, diese Situationen kenne ich auch nur zu gut. Alles richtig gemacht! Ich finde sowas immer extremst übergriffig und gerade, wenn man Menschen nicht so gut kennt, muss man nicht zwingend als seelischer Mülleimer her halten. Man muss und darf sich abgrenzen.

    Zu Deinen anderen Herausforderungen: Ja, wir haben schon einiges hinter uns. Auch Dein Leben ist nicht so gelaufen, wie Du es Dir gedacht hast. Und ein paar dicke Brocken hat man Dir in den Weg geschmissen. Ich kann aufgrund meiner Erfahrungen die Schwere einiger Deiner Herausforderungen durchaus nachvollziehen. Ich finde es toll, dass Du aus diesem Erleben heraus Deine künftigen Herausforderungen so unerschrocken formulierst. Ein bißchen was hast Du da ja schon noch vor Dir. Vor allem mit dem Wohnort. Das las ich aus Deinem Artikel, der sich mit innerer Heimat beschäftigte, schon so ein bißchen heraus. Ich wünsche Dir, dass Du den Ort findest, an dem Du richtig ankommen kannst.
    Liebe Grüße
    Britta

    1. Liebe Britta,
      herzlichen Dank für deinen Zuspruch!
      Ich hoffe sehr, eines Tages genau diesen Ort bestimmen zu können 🙂
      Und bis dahin fühle mich auf dem richtigen Weg,
      Gruß Gabi

  4. Liebe Gabi,
    da wäre ich schon früher aufgestanden oder wäre ihr ins Wort gefallen oder hätte mich demonstrativ mit jemand anderem unterhalten. Ich bewundere deine Geduld, das ist eine ganz große Qualität und die solltest du dir unbedingt bewahren.
    Liebe Grüße, Birgit

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